Bereits sehr früh war ich mir sicher, dass ich mich später beruflich den beiden Sprachen Französisch und Deutsch sowie der schönen Literatur widmen möchte.
So absolvierte ich mein Lehramtsstudium in den Fächern Französisch und Deutsch an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und arbeitete nach dem II. Staatsexamen als Französisch- und Deutschlehrerin im Schuldienst.
Dort habe ich meinen Schülerinnen und Schülern Sprache, Land, Leute und Kultur unseres Nachbarlandes Frankreich sowie anderer frankophoner Länder nähergebracht und so gemeinsam mit den jungen Menschen Brücken zwischen den Ländern und Kulturen gebaut.
Im Laufe der Zeit verstärkte sich der Wunsch, intensiver und kreativer mit den beiden Sprachen und der Literatur zu arbeiten. Und so entschloss ich mich, fortan als freiberufliche Übersetzerin, Lektorin und Korrektorin zu arbeiten.
Dies ermöglicht mir eine umfassende Auseinandersetzung mit der schönen Literatur und mit Texten aus den Bereichen Koch- und Backkunst, zu denen ich seit jeher eine starke Affinität habe.
Der folgende Text ist ein gekürzter und editierter Auszug des Kernkapitels „Die Venus-Karikatur in Rimbauds Gedicht Vénus Anadyomène“ aus meiner Examensarbeit, die ich zu dem Thema „Die Venus-Figur. Klassische Schönheit und Karikatur bei Arthur Rimbaud“ verfasst habe.
Dieses Kapitel beinhaltet eine Analyse von Rimbauds Sonett-Gedicht Vénus Anadyomène (Schaumgeborene Venus), die im Hinblick auf dessen lyrische Inszenierung des antiken Mythos´ von der Schaumgeborenen Venus und deren ästhetisch-ontologische sowie kunst- und dichtungstheoretische Funktion durchgeführt worden ist.
[...] In Rimbauds karikaturistischer Darstellung des antiken Venus-Mythos’ taucht eine hässliche, morbide, mit unzähligen physischen Makeln behaftete Venus in der Gestalt einer gewöhnlichen Frau aus einer maroden Blechbadewanne auf.1 Hinsichtlich ihres äußeren Erscheinungsbildes und ihrer offensichtlich negativen charakterlichen Beschaffenheit bildet diese ein komisches Antibild - also eine Karikatur - des traditionellen Schönheitsideals.2 [...]
Anders als in den traditionellen Darstellungen des Mythos’ von der kosmogonischen Meeresgeburt geht die Venus-Figur bei Rimbaud somit nicht aus der Vereinigung der kosmischen Urgewalt des Meeres mit den Genitalien des Gottes Uranos hervor,3 die diese als ihren Ursprung in den Kosmos einbände, als ein göttliches Wesen determinierte und so zu einer "Macht universaler Vereinigung"4 werden ließe. Stattdessen tritt Venus aus einem banalen Gebrauchsgegenstand heraus in Erscheinung, der stark ramponiert ist und sich zudem in einem äußerst maroden Zustand befindet.5
Dieser banale Ursprung von Venus, der in Analogie zu dem Meer im antiken Mythos ihr Wesen prägt und ihre Bestimmung beinhaltet, offenbart den Verlust der kosmischen Einheit und trivialisiert die Schönheits- und Liebesgöttin gleich auf den ersten Blick.
Dass ein Analogieverhältnis zwischen dem Meer und der Badewanne besteht, wird nicht nur auf der inhaltlichen Ebene des Gedichts durch das Zitat des Mythos’ der Schaumgeborenen Venus deutlich, sondern zeigt sich auch auf dessen bildlicher Ebene. Die Badewanne korrespondiert dort aufgrund des gemeinsamen Wasser-Motivs mit dem Meer und ist darüber hinaus durch ihre weiß-grüne Farbe motivisch mit diesem verbunden.6 Die Farben Weiß und Grün können in diesem Kontext als eine Anspielung auf das grünliche Meer und den weißen Meeresschaum gedeutet werden, aus dem Venus gemäß dem antiken Mythos entstanden ist.7Die Venus-Figur selbst erscheint aufgrund ihrer morbiden körperlichen Verfassung wie ein abbildhaftes Äquivalent des Verfallszustands ihres Ursprungs- und Erscheinungsorts, der Badewanne, da sich in ihrer Gestalt gewissermaßen das Prinzip des Verfalls in zahlreichen übereinstimmenden Anzeichen der Morbidität widerspiegelt.8
Wie eng die Verklammerung zwischen der Venus und ihrem Ursprungs- und Erscheinungsort wirklich ist, wird auf der formalen Ebene des Gedichts in Form eines Doppelbezugs des Verses "avec des déficits assez mal ravaudés"9 deutlich. Denn dieser kann syntaktisch sowohl auf die Badewanne als auch auf die Venus-Figur bezogen werden. Neben der zunächst vagen Andeutung von Makeln, den déficits,10 die wortwörtlich auch als Abnutzungserscheinungen übersetzt werden können,11 wodurch der Akzent auf den durch die Zeit bedingten Verfall gelegt würde, werden im Folgenden insbesondere drei physische Makel aufgeführt, welche die Morbidität sowie die Hässlichkeit der Venus-Figur auf plastische Weise zum Ausdruck bringen.12 [...]
Bei der von Rimbaud evozierten Hässlichkeit der Venus-Figur handelt es sich nicht um eine bloß mimetische Beschreibung einer gewöhnlichen physischen Form des Hässlichen, sondern vielmehr um eine Deformation dieser im Baudelaireschen Sinne, die ein künstlich erzeugtes Höchstmaß an Hässlichkeit hervorbringt, das grundsätzlich karikativen Charakters ist.13 Von grundlegender Bedeutung diesbezüglich ist, dass sich die Hässlichkeit der Venus-Figur Rimbauds aus einer Summe von mehreren negativ konnotierten Komponenten konstituiert, die jeweils für sich bereits ins Extreme gesteigert sind: die physische und moralische Hässlichkeit sowie das Widerwärtige.14
Dennoch manifestiert sich in der lyrischen Darstellung der Hässlichkeit, Abscheulichkeit und Obszönität der Venus-Figur eine ganz spezifische befremdliche, ungreifbare, verstörende und zugleich magische Form der Schönheit, wie sie Baudelaire in seinem Schönheitskonzept als das "élément insaisissible du beau"15 bezeichnet hat, die ausschließlich aus einer "laideur physique et morale"16 hervorgehen kann. Diese - die dem traditionellen Verständnis idealer Schönheit absolut konträr ist - entsteht in einem komplexen Zusammenspiel von einer expressiven, in ihrer Eindrücklichkeit beinahe aggressiven Bildlichkeit des Hässlichen, die sich aus einer stimmigen Gesamtkomposition von per se scheußlichen Einzelbildern in Form der ins Hässliche verzeichneten Körperteile konstituiert, einer spezifischen Wortwahl, die eine prägnante, einfache, bisweilen umgangssprachliche oder sogar derbe und schonungslose Sprache impliziert17 sowie einem bestimmten Sprachrhythmus und -klang, der die Sprache des Gedichts in Schwingung versetzt. [...]
Darüber hinaus bildet die spannungsgeladene Diskrepanz, die zwischen der bekannten klassischen Vorlage einer idealen Schönheit und deren karikativer Verzeichnung besteht, einen wesentlichen Aspekt der Faszinationskraft der Darstellung des Hässlichen, indem der Rezipient, um es mit Baudelaires Worten auszudrücken, diese Abweichung zwischen der antiken Vorlage und ihrem komischen Zerrbild identifizieren und goutieren kann.18 [...]
Bereits der Gedichttitel "Vénus Anadyomène", der ganz offensichtlich auf den wirkungsmächtigen antiken Mythos und sein Mysterium der Entstehung des Schönen und der Sinnlichkeit rekurriert, weckt entsprechende Vorstellungen und Erwartungen einer Evokation idealer Schönheit bei dem Rezipienten. Diese werden durch den Inhalt des Gedichts in Form der Darstellung einer Venus-Figur in der Gestalt einer ins Hässliche verzeichneten ältlichen Kokotte,19 die anstatt den Meeresfluten einer maroden Badewanne entsteigt, jedoch jäh enttäuscht und ad absurdum geführt.20 So besteht zwischen dem Titel und dem Inhalt des Gedichts grundsätzlich schon ein unauflösbares bizarres Spannungsverhältnis.
Ein weiteres Element des in diesem Gedicht existenten Spannungsverhältnisses stellt das Oszillieren zwischen der magischen Schönheit auf der sprachklanglichen Ebene und der Hässlichkeit und Abscheulichkeit auf der inhaltlichen Ebene dar. Die Klangschönheit konstituiert sich vorwiegend durch Alliterationen und Akkumulationen eines bestimmten Vokals. [...] Darüber hinaus tragen zahlreiche Enjambements zu einem ganz eigentümlichen sprachlichen Rhythmus bei. Auf der inhaltlichen Ebene des Gedichts führen diese mitunter zu krassen Brüchen innerhalb der Darstellung und fragmentieren das Dargestellte.21 Oftmals werden durch diese Brüche sogar Bezugswörter, wie etwa die Körperteile, und deren Attribute durch ein Enjambement voneinander getrennt, was zu einer regelrechten Fragmentierung der Gestalt von Venus führt. So beispielsweise in den Versübergängen "les larges omoplâtes/qui saillent"22 sowie "une tête/de femme",23 wo sogar ein zusammengehöriger Begriff getrennt wird, was einen besonders krassen Bruch zur Folge hat. [...]
Die Charakterisierung von Rimbauds Venus-Figur erfolgt ausschließlich anhand von negativ konnotierten oder eine negative Wertung implizierenden Adjektiven und Adverbien wie beispielsweise "gras",24 "horrible"25 und "hideusement".26 Diese werden bisweilen zusätzlich in ihrer ohnehin schon negativen Grundbedeutung mittels Steigerungsadverbien intensiviert wie zum Beispiel "fortement",27 welches die Bedeutung des Adjektivs "pommadées",28 das per se eine negative Wertung impliziert, verstärkt. [...]
Abschließend bleibt hinsichtlich Rimbauds lyrischer Darstellung des Venus-Mythos’ festzustellen, dass Venus darin grundsätzlich zwei unterschiedliche Funktionen und Dimensionen besitzt, die beide kunst- bzw. dichtungstheoretischen Charakters sind. So stellt sie zum einen die Karikatur einer allseits bekannten, bestehenden Vorlage in Form des traditionellen idealistischen Schönheitskonzepts sowie dessen Rezeption im 19. Jahrhundert dar, anhand derer etwas Altes, Überkommenes verabschiedet wird. Zum anderen besitzt sie zugleich in ihrer Funktion einer Personifikation des modernen Baudelaireschen Schönheitskonzepts einen ästhetischen Eigenwert, indem sie das Neue verkörpert. Somit sind der Abschied von dem Alten und die Entstehung des Neuen symbolisch in der Venus-Figur miteinander verschränkt. [...]
Vor dem Hintergrund, dass Venus in diesem Gedicht als Personifikation des modernen Schönheitskonzepts fungiert, ist auch ihr Auftauchen aus der maroden Badewanne zu interpretieren. In diesem Zusammenhang bestehen allerdings zwei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Einerseits können der marode Zustand der Badewanne und die damit korrelierende Morbidität der Venus, deren Ursprung und Voraussetzung die Wanne in Analogie zu dem Meer im antiken Mythos darstellt, als Ausdruck der Überkommenheit und des Verfalls der Normen des alten traditionellen ewigen Schönheitsideals interpretiert werden, deren zeitloses Wesen durch die Karikierung auf spöttisch-bissige Weise persifliert und kritisiert wird. Auf der anderen Seite kann das Auftauchen der neuartigen Venus aus der Badewanne in Analogie zu dem antiken Entstehungsmythos als der symbolische Akt des Erscheinens eines modernen Schönheitskonzepts gedeutet werden, welches Venus in ihrer elementaren Funktion einer "Reflexionsfigur der bildkünstlerischen und poetischen Theorie des Schönen"29 verkörpert.30 [...]
Vénus Anadyomène
Comme d’un cercueil vert en fer blanc, une tête
De femme à cheveux bruns fortement pommadés
D’une vieille baignoire émerge, lente et bête,
Avec des déficits assez mal ravaudés;
Puis le col gras et gris, les larges omoplates
Qui saillent; le dos court qui rentre et qui ressort;
Puis les rondeurs des reins semblent prendre l’essor;
La graisse sous la peau paraît en feuilles plates;
L’échine est un peu rouge, et le tout sent un gout
Horrible étrangement; on remarque surtout
Des singularités qu’il faut voir à la loupe...
Les reins portent deux mots gravés: Clara Venus;
- Et tout ce corps remue et tend sa large croupe
Belle hideusement d’un ulcère à l’anus.
A. Rimbaud: Vénus Anadyomène
Aus: Arthur Rimbaud. Oeuvres complètes.
Éd. par: Antoine Adam.
Paris 1972. S. 22.
1 Rimbaud, Arthur: Oeuvres complètes. Éd. par: Antoine Adam. Paris 1972. S. 22. [= Adam (1972).]
2 ebd. S. 22.
3 vgl. Kapitel 2.1.
4 Full, Bettina: Aphrodite. In: Der neue Pauly. Supplemente 5. Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart/Weimar 2008. S. 1.
5 Adam (1972). S. 22, V. 4.
6 ebd. S. 22, V. 1-3.
7 vgl. Kapitel 2.1..
8 ebd. S. 22, V. 4, 5, 8, 9, 10, 11 u. 14.
9 ebd. S. 22, V. 4.
10 ebd. S. 22, V. 4.
11 Rimbaud. Oeuvres complètes. Éd. par: Pierre Brunel. Paris 1999. S. 191.
12 Adam (1972). S. 22, V. 5, 8, 9 u. 14.
13 ebd. S. 22. vgl. auch Friedrich (2006). S. 78f..
14 Adam (1972). S. 22, u.a. V. 2f., 6f., 9f., 13f..
15 vgl. Kapitel 1.2.2. u. Baudelaire, Charles: Oeuvres complètes. Éd. par: Claude Pichois. (Bd. 2). Paris 1976. S. 526. [= Pichois (1976).]
16 ebd. Kapitel 1.2.2. u. Pichois (1976). S. 526.
17 Dabei handelt es sich beispielsweise um das umgangssprachliche Wort croupe (vgl. Adam (1972). S. 22, V. 13).
18 Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Reinbeck bei Hamburg 2006. S. 47. [= Friedrich (2006).]
19 vgl. auch Widden, Seth: Rimbaud Writing on the body: Anti-Parnassian Movement an Aethetics in ´Vénus anadyomène´. In: Nineteenth-Century French Studies. (Volume 27, Nos. 3 & 4). Spring-Summer 1999. S. 345. [= Widden (1999).]
20 Adam (1972). S. 22.
21 ebd. S. 22, V. 1f. u. 5f.
22 ebd. S. 22, V. 5f.
23 ebd. S. 22, V. 1f.
24 ebd. S. 22, V. 5.
25 ebd. S. 22, V. 10.
26 ebd. S. 22, V. 14.
27 ebd. S. 22, V. 2.
28 ebd. S. 22, V. 2.
29 Full (2008). S. 2.
30 Seth Widden versteht die marode Badewanne als Symbol der alten traditionellen Lyrik, aus der die neue moderne Lyrik, personifiziert durch die morbide Venus-Figur, hervorgeht. (vgl. Widden (1999). S. 341.)